Wirtschaftsinformatik – Zur konzeptuellen Rekonstruktion eines Fachgebiets

Foliensatz zur Abschiedsvorlesung

Abschiedsvorlesung, 25. Januar 2017

Wirtschaftsinformatik – Zur konzeptuellen Rekonstruktion eines Fachgebiets
Prof. Dr. Elmar J. Sinz
Erweiterte Zusammenfassung, im Nachgang zur Vorlesung abgefasst
Stand 05.02.2017

Seit den 1970er Jahren wird Wirtschaftsinformatik in breiterem Umfang im Rahmen des Studiums der Betriebswirtschaftslehre als Spezielle BWL angeboten. Der erste Lehrstuhl allerdings existierte bereits in den 1960er Jahren, der von Peter Mertens, 1968 an der Universität Linz gegründet. Seit den 1980er Jahren werden zunehmend eigene Studiengänge für Wirtschaftsinformatik eingerichtet. In Darmstadt und Mannheim die ersten in Deutschland, in Bamberg der dritte und gleichzeitig der erste in Bayern.

Ein noch junges Fach also, mit einem teilweise schillernden Fachverständnis (Seite 2). In den Rahmenempfehlungen für die Ausbildung in Wirtschaftsinformatik an Hochschulen, getragen von der Wissenschaftlichen Kommission Wirtschaftsinformatik (WKWI) des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft und dem Fachbereich Wirtschaftsinformatik der Gesellschaft für Informatik (GI) ist zu lesen: „Gegenstand der Wirtschaftsinformatik sind Informationssysteme (IS) in Wirtschaft, Verwaltung und privatem Bereich. IS sind soziotechnische Systeme, die menschliche und maschinelle Komponenten (Teilsysteme) umfassen“. Das bedeutet, dass jedes Unternehmen über ein IS verfügt, z.B. besitzt ein Handelsunternehmen ein teilautomatisiertes Warenwirtschaftssystem, ausgeführt von Mensch und Computer. Der Gärtner, der seine Waren am Samstagsmarkt anbietet, besitzt auch eines, wenngleich es ggf. nicht auf Computern beruht, sondern händisch mit Zetteln, Listen und Ordnern abgewickelt wird. Im Gegensatz dazu zielt Wikipedia auf IS als zu entwickelnde Systeme ab: „Die Wirtschaftsinformatik ist eine Wissenschaft, die sich mit Entwicklung und Anwendung von Informations- und Kommunikationssystemen in Wirtschaftsunternehmen befasst“. Demzufolge hätte der Gärtner kein Warenwirtschaftssystem. Eine ähnliche Sicht kann teilweise in Wirtschaftslexika gefunden werden.

1.     Studieninhalte der Wirtschaftsinformatik (WI)

Das Curriculum der Wirtschaftsinformatik (WI) umfasst einerseits BWL- und Informatik-Inhalte, wie sie auf Seite 4 beispielhaft angegeben sind, und andererseits die spezifischen Kerninhalte der WI, die weder in der BWL noch in der Informatik gelehrt werden. Diese spezifischen Kerninhalte sind ebenfalls beispielhaft angegeben.

Zur systematischen Abgrenzung von BWL, Informatik und WI wird das Aufgabenmodell der Organisationslehre herangezogen (Seite 5), welches in der Außensicht das Aufgabenobjekt AO und die Ziele Z, in der Innensicht die Lösungsverfahren LV unterscheidet.

BWL WI Informatik
AO Betriebliches System Betriebliches System „Welt der Informationen“
Z Rationales Handeln Informationsverarbeitung Informationsverarbeitung
LV Mensch, Computer als Hilfsmittel Computer, Mensch Computer

Hier wird deutlich, dass die WI aus der Sicht von AO eine wirtschaftswissenschaftliche Disziplin wie die BWL ist, dass sich die Ziele aber mit denen der Informatik decken. Dabei bezieht die WI neben der maschinellen Informationsverarbeitung (mithilfe von Computern) auch die personelle (mithilfe von Menschen) mit ein.

2.     Einige Zahlen zur WI

In Deutschland sind derzeit insgesamt ca. 506.000 Studienanfänger pro Jahr zu verzeichnen (Seite 6), wobei ca. 193.000 auf die Rechts-, Wirtschafts-, Sozialwissenschaften entfallen. Im Gegensatz dazu haben das Studienfach Informatik 15.858 und die WI 9.198 Studienanfänger pro Jahr. Die Zahlen zeigen einerseits den kleinen Anteil der Informatik- und WI-Studienanfänger verglichen mit den populärsten Studienfächern. Andererseits zeigen die Zahlen aber auch, dass die WI als einzige der sogenannten „Bindestrich-Informatiken“ in die Größenordnung der Informatik kommt.

Was die Anzahl der WI-Studierenden in Bayern angeht, so ist Bamberg der größte Standort (Seite 7).

3.     Untersuchungen zum Forschungsfeld der WI aus drei Jahrzehnten

Immer wieder hat die WI eine eigene Positionsbestimmung versucht:

  1. Im Jahr 1994 wurde versucht, die Forschungsgegenstände der WI zu identifizieren. Die Untersuchung beruhte auf einer Delphi-Studie mit 30 Experten aus Wissenschaft und Praxis. Die Ergebnisse sind zwei Ebenen zugeordnet, der globalen inhaltlichen Ausrichtung der WI und der Individualebene. Seite 8 zeigt, dass die Ergebnisse auf der globalen Ebene stark divergieren. Sie reichen von einer „Wissenschaft mit starkem Bezug zur Organisationslehre“ über eine „Innovationswissenschaft“ bis zu einer „Wissenschaft zur Systementwicklung“.
  2. Eine Folgeuntersuchung wurde im Jahr 1999 durchgeführt. Hier ging es um die Erkenntnisziele der WI der nächsten drei bzw. 10 Jahre (Seite 9). Die Untersuchung war wiederum als Delphi-Studie konzipiert. 30 Experten aus Wissenschaft und Praxis nahmen teil.
  3. Die Herausforderungen der WI, die „Grand Challenges“ wurden im Jahr 2013 untersucht. Die Untersuchung beruht auf Literatur- und Webstudium, informeller Diskussion und anschließender Filterung und Gewichtung (Seite 10). Damit ist das Ergebnis zwar subjektiv, zeigt aber dennoch die aktuell wahrgenommenen Forschungsaufgaben auf.

4.     Konzeptuelle Rekonstruktion (1): Das klassische Forschungsparadigma

Das klassische Forschungsparadigma der WI ist durch die Dreiteilung des Erkenntnisobjekts in Mensch (M), Aufgabe (A) und Technik (T) bestimmt. Einer der ersten, der dieses so formuliert hat, war L.J. Heinrich (Heinrich 1993). Hierin spiegelt sich auch die Sichtweise von WKWI und GI wider, wonach IS soziotechnische Systeme sind (Seite 11). Das Forschungsparadigma ist auch mit einer Trennung des IS in Aufgaben- und Aufgabenträgerebene kompatibel, die Ferstl und Sinz als eines der Grundprinzipien der WI ansehen.

Anhand dieses Paradigmas lassen sich nun komponententyp-orientierte (A, M, T) (Seite 12), beziehungstyp-orientierte (A-C, A-M, M-C) (Seite 13) und ganzheitliche Erkenntnisziele (Seite 14) unterschieden. Auf den einzelnen Seiten sind Beispiele für diese Erkenntnisziele dargestellt.

5.     Konzeptuelle Rekonstruktion (2): Erweiterungen des klassischen Forschungsparadigmas

Um die aktuellen Erweiterungen des klassischen Forschungsparadigmas zu rekonstruieren, ist es notwendig, die einzelnen Bestandteile eines Fachgebiets separat zu betrachten. Die Bestandteile korrespondieren mit dem Aufgabenmodell der Organisationslehre: Erkenntnisobjekt (AO), Erkenntnisziele (Z) und Methoden und Verfahren (Lösungsverfahren) (Seite 15).

  • Beim Erkenntnisobjekt ist eine Erweiterung in der Breite und in der Tiefe zu beobachten (Seite 16). In der Breite erweitert sich das Erkenntnisobjekt durch die Ausdehnung auf den privaten Bereich. Diese wurde erst in jüngerer Zeit aufgenommen. In den Rahmenempfehlungen von 2003 war noch zu lesen „… die zunehmend auch in die privaten Haushalte hineinwirken“. In den früheren Rahmenempfehlungen gab es keinen Bezug zu den privaten Haushalten. Diese Erweiterung in der Breite besitzt ein immenses Forschungspotenzial.
    Die Erweiterung in der Tiefe ist überall dort zu beobachten, wo der IS-Anteil den Leistungsanteil (genauer: den Anteil des Basissystems) dominiert. Dies ist z.B. in der Finanzwirtschaft der Fall, wo nahezu alle Ströme im Bereich des IS ablaufen (kaum ein seriöser Geschäftsmann nutzt Bargeld zur weltweiten Abwicklung von Finanzgeschäften) oder auch im Bereich der Energiewirtschaft, wo die Lenkung des Systems mithilfe von Smart Grids und Smart Meters die eigentliche Stromerzeugung und -bereitstellung dominiert.
  • Erweiterungen der Erkenntnisziele (Seite 17) sind z.B. im Bereich der Schnittstellen von IS zu beobachten, deren Entwicklung künftig eher automatisiert erfolgen wird. Weitere Beispiele sind die „Smart Contracts“ und das große Feld der Digitalisierung.
    Die in den letzten Jahren verstärkt verfolgten empirischen Erkenntnisziele sind dagegen separat zu betrachten (Seite 18). Dabei geht es darum, ein System in Form von Hypothesen zu modellieren (AO) und diese Hypothesen zu verwerfen oder anzunehmen (Z). Diese empirischen Probleme stehen im Gegensatz zu den klassischen Konstruktions- und Analyseproblemen und eröffnen damit eine weitere Klasse von Problemen. Die beiden Klassen sind bzgl. ihrer Erkenntnisziele nur bedingt kompatibel. Beispiel: Ein Konstrukteur erdbebensicherer Brücken baut in deren Pylonen große Massen ein, die an Pendeln befestigt den Erdstößen entgegenwirken sollen. Er evaluiert seine Konstruktion vom Konzept her rechnerisch sowie anhand eines Modells, auf das er simulierte Erdstöße einwirken lässt. Eine empirische Untersuchung würde hingegen bedeuten, dass man hinreichend viele Brücken mit Pendeln ausstattet (oder in der Kontrollgruppe nicht ausstattet) und dann anhand der Aufzeichnungen von hinreichend vielen realen Erdbeben das Verhalten der Brücken auswertet. Dies macht deutlich, dass hier zwei verschiedene Problemklassen vorliegen.
  • Durch die Erweiterungen der Erkenntnisziele wachsen die Anforderungen an Methoden und Verfahren (Seite 19). Zum Beispiel führt das Ziel, dass ein Anwendungssystem zu einem beliebigen anderen Anwendungssystem in Kontakt treten kann, ohne dass dieses darauf vorbereitet wäre, automatisch zu einem Bedarf an der Methodik intelligenter Agenten. Diese beruht konzeptuell darauf, dass ein rationaler Agent einer Umwelt gegenübersteht, deren Verhalten unbekannt ist und das er erforschen muss. Dieses Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz, wiederum ein Teilgebiet der Informatik, wurde bislang von der Wirtschaftsinformatik kaum beachtet. Ein weiteres Beispiel ist die Aktor- und Sensortechnik, die zur Forschung im Bereich der Digitalisierung unverzichtbar ist. Die WI bleibt daher aus Sicht der Methoden und Verfahren lebendig.

6.     Zusammenfassung und Fazit

Seite 20 fasst die Vorlesung zusammen und gibt das (subjektive) Fazit des Referenten wieder. Besonders wichtig erscheint dabei, dass die WI eine Realwissenschaft ist. Die Erkenntnisziele sind daher so zu wählen, dass ihre Untersuchung relevante Fragestellungen in Bezug auf die Realität beantwortet. Eine Verliebtheit in bestimmte Methoden und Verfahren ist zu vermeiden.